Die Entwicklung von Wut auf Menschen, die ein ähnliches Schicksal gemeistert haben, lässt sich aus verschiedenen Perspektiven verstehen. Ein zentraler Punkt ist das Erleben von Hilflosigkeit, Trauer und Schuld im Zusammenhang mit einem Suizid.
Wenn jemand einen nahestehenden Menschen durch Suizid verliert, entsteht ein extremes Gefühl des Verlustes, der nicht nur schmerzhaft, sondern auch sehr verwirrend ist. Suizid hinterlässt viele unbeantwortete Fragen: "Warum hat er oder sie es nicht geschafft? Hätte ich mehr tun können? War ich nicht genug?" Solche Gedanken führen nicht selten zu einer tiefen inneren Verzweiflung, die sich eines Tages, auch oft erst Jahre später in Form von Wut manifestieren kann.
Diese Wut richtet sich dann gegen Menschen, die es geschafft haben, eine ähnliche Krise zu überwinden. Man empfindet sie als ungerecht oder vielleicht sogar als einen schmerzhaften Spiegel dessen, was der Verstorbene nicht bewältigen konnte.
Aus der Perspektive der Projektion ist es ein Abwehrmechanismus, der in der Psychoanalyse häufig beschrieben wird. Es kann durchaus vorkommen, dass die Überlebenden oder Hinterbliebenen ihren eigenen Schmerz, ihre Ohnmacht oder Schuldgefühle auf andere projizieren. Menschen, die eine schwere Lebensphase überwunden haben, erscheinen dann als "Zielscheibe" für den eigenen unausgesprochenen Schmerz. Ihre Stärke oder ihr Überleben wird als Vorwurf verbalisiert und empfunden: "Warum haben sie es geschafft und mein geliebter Mensch nicht?"
Darüber hinaus spielt auch der Vergleich eine wesentliche Rolle.
Er ist ein weiterer psychologischer Aspekt, der oft in solchen Situationen unbewusst angestellt wird. Menschen neigen dazu, in Zeiten der Krise Vergleiche zu ziehen: "Warum konnte er oder sie weitermachen, und mein geliebter Mensch nicht?" Dieser Vergleich verstärkt die schmerzhafte Realität des Verlustes und erzeugt Gefühle von Neid und Ungerechtigkeit. Die Vorstellung, dass es eine Alternative gegeben hätte, kann den Trauerprozess zusätzlich erschweren, weil sie den Hinterbliebenen mit der quälenden Frage konfrontiert: "Was wäre gewesen, wenn...?"
Diejenigen, die es geschafft haben
stehen sinnbildlich für die Möglichkeit, die der eigene geliebte Mensch nicht ergriffen hat oder nicht ergreifen konnte, was zu einem quälenden inneren Konflikt führen kann, der sich dann durchaus in Wut, ja sogar Hass auf diejenigen entwickelt, die Glück hatten oder einen gänzlich anderen Weg gegangen sind, der geholfen hat.
Diese Wut kann auch eine Form der Projektion sein. Statt die tiefe Trauer und den Schmerz direkt zu spüren, wird die emotionale Energie in Ärger umgewandelt und nach außen projiziert. Menschen, die ein ähnliches Schicksal gemeistert haben, werden dann zu einem Ziel dieser Projektion, weil sie auf eine bestimmte Art und Weise das Gegenteil von dem darstellen, was der Trauernde erlebt hat, bzw noch immer erlebt. Das gilt vor allem dann, wenn der Trauernde eigene psychische Probleme hat, die durch den Suizid verstärkt wurden und die scheinbar nicht in den Griff zu bekommen sind. Fehlt es zusätzlich an der Fähigkeit und, oder dem Willen z.B. gänzlich andere Lösungen außerhalb der klassischen Schulmedizin zu versuchen, verstärkt sich die Wut sogar. Noch extremer wird es für den Trauernden, wenn bei der Heilung des anderen nicht greifbare philosophische oder spirituelle Aspekte eine Rolle gespielt haben.
So wird die Wut zu einer unbewussten Abwehrreaktion, um sich vor den eigenen Gefühlen von Ohnmacht und Verzweiflung zu schützen.
Zuletzt spielt auch das Gefühl von Einsamkeit und Isolation eine Rolle. Personen, die einen geliebten Menschen durch Suizid verloren haben, fühlen sich oft unverstanden und allein mit ihrem Schmerz. Die Konfrontation mit anderen, die ein ähnliches Leid überstanden haben, kann dieses Gefühl noch verstärken und führt zu einer tiefen Verbitterung, weil diese Menschen scheinbar das gefunden haben, was man selbst so sehr vermisst: einen Weg aus dem Leid, mit allem was dazu gehört, von Lebensglück bis hin zu einer neuen Beziehung oder einfach nur schnöder Normalität.
Der Erfolg anderer, der als Überwindung oder Heilung gesehen wird, kann den eigenen Schmerz und die eigene Trauer noch stärker hervorheben, weil er das Gefühl erzeugt, im Dunkeln stehen geblieben zu sein, während andere weitergegangen sind, die es möglicherweise gar nicht verdient haben. So sitzt man mit all diesen negativen Emotionen in der eigenen Dunkelheit und schreit "Warum er oder sie? Warum ich nicht?"
Diese Wut, die ich auch über einen langen Zeitraum gespürt habe, aber nie nach außen getragen habe, ist nichts weiter als ein verständlicher Ausdruck von tiefer Trauer und unausgesprochenem schreienden Schmerz. Sie ist ein Schutzmechanismus des Geistes, um die Intensität der Trauer und das Gefühl der Verlassenheit zu bewältigen.
Denn manchmal ist es einfacher, die Wut nach außen zu richten, als sich dem erdrückenden Schmerz der eigenen Verluste zu stellen. Indem man auf diejenigen wütend ist, die überlebt oder gekämpft haben, vermeidet man die Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass der geliebte Mensch diese Stärke oder Unterstützung nicht finden konnte oder man selbst im emotionalen Chaos steckengeblieben ist.
Aus psychologischer Sicht geht es hier fast immer um nicht verarbeitete Emotionen und Ängste, die in der unendlich langen Phase der Trauer auftreten. Trauer verläuft nicht linear und ist von verschiedenen Gefühlen und Verzweiflung geprägt. Wut ist in dieser Phase eine besonders starke Emotion, weil sie das Gefühl gibt, etwas kontrollieren zu können, in einer Situation, die ansonsten von Ohnmacht geprägt ist, da besonders der Verlust durch Suizid viele offene Fragen hinterlässt, auf die es oft keine befriedigenden Antworten gibt.
Die sich in Wut wandelnde Verzweiflung kann daher auch als Ausdruck des verzweifelten Wunsches nach Antworten oder nach einem Sinn gesehen werden. Der Hinterbliebene fragt sich möglicherweise: „Warum konnte mein geliebter Mensch nicht den gleichen Weg finden? Warum habe ich ihn oder sie verloren, während andere gerettet wurden?“ Diese Fragen bleiben immer unbeantwortet und verstärken dadurch die eigene Wut.
Im Kern geht es meist um das Gefühl der Ungerechtigkeit und des Verlusts von Kontrolle. Wenn jemand es schafft, eine ähnliche Krise zu bewältigen, wirkt das wie ein Beweis dafür, dass es möglich gewesen wäre – was die eigene Ohnmacht und den Schmerz umso stärker spürbar macht. Diese Wut ist also oft ein Ausdruck des tiefen inneren Schmerzes, des Gefühls, verlassen worden zu sein, und der Schwierigkeit, das Unvermeidbare zu akzeptieren.
Ein weiterer Aspekt ist, dass diese Wut auch eine Art unbewusster Selbstvorwurf sein kann. Man fühlt sich möglicherweise schuldig, weil man glaubt, nicht genug getan zu haben, um den geliebten Menschen zu retten. Die Wut auf andere kann in Wirklichkeit also eine Wut auf sich selbst sein – auf das Gefühl, versagt zu haben oder nicht in der Lage gewesen zu sein, zu helfen. Diese Wut auf sich selbst wird dann auf andere projiziert, weil der Gedanke, die eigene Unzulänglichkeit zu akzeptieren, unerträglich ist. Aber an dieser Stelle muss einfach deutlich gemacht werden: Es war nicht Deine Schuld! Du trägst keine Verantwortung dafür! Man kann niemanden für das letzte Symptom diverser psychischer Erkrankungen verantwortlich machen. Wirklich niemanden.
Letztlich ist es wichtig zu erkennen, dass Wut in der Trauerphase ein ganz normaler Bestandteil des Verarbeitungsprozesses ist. Sie kann sogar eine heilsame Funktion haben, da sie dabei hilft, die intensiven Emotionen zu durchleben und schrittweise zu bewältigen. Langfristig ist es jedoch entscheidend, diese Wut zu erkennen und sich ihr zu stellen, um sie zu transformieren – sei es durch Gespräche, Therapie oder andere Formen der emotionalen Bewältigung.
Mit der Zeit, durch Reflexion und Unterstützung, kann sich diese Wut vielleicht in etwas anderes verwandeln: in Mitgefühl, für sich selbst und für andere, die ähnliche Kämpfe durchmachen.
Und trotz der Wut versuche ich auch weiterhin zu helfen, wenn du magst und es dir wieder möglich ist.
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