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AutorenbildMario Dieringer

Rede / Speech: Ein Ginko-Baum für Marten Spörel

Aktualisiert: 27. Mai 2020


Für Marten, Euren Vater haben wir jetzt einen Ginko Baum gepflanzt. Das freut mich ganz besonders, weil der Ginko Baum, der 2000 Jahre alt werden kann, ein ganz besonderer Baum ist und mein Lieblingsbaum ist. Schon aufgrund seines Alters eignet er sich sehr gut als TREE of MEMORY, was ja Baum der Erinnerung heisst.

Dieser Baum soll an Euren Vater erinnern, der eines Tages einfach nicht mehr da war. Von einem Moment auf den Anderen änderte sich Euer Leben, das plötzlich mit unendlicher Traurigkeit und fassungsloser Wut gefüllt war. Es gab keine Umarmung mehr, kein letzter Kuss, kein liebes Wort und kein gemeinsames Spiel.

Ich hatte das auch und kenne dieses Gefühl, denn mein Vater war ebenfalls plötzlich fort. Es war an Pfingsten vor mehr als 30 Jahren, morgens um 10 als das Telefon klingelte und mein noch junges Leben für immer verändern sollte. „Mario, Dein Vater ist bei einem Verkehrsunfall gestorben“ sagte man mir … den Rest habe ich kaum noch gehört, weil ich nur noch geschrien und geweint habe. Ich musste sofort ganz allein nach Italien, doch es gab keinen Zug und ich musste einen Tag warten. Als ich am nächsten Tag endlich angekommen bin, war die Beerdigung vorbei. Wie ihr zwei habe ich ihn nicht mehr gesehen, nicht mehr mit ihm gesprochen, konnte mich nicht mehr verabschieden. In den Wochen, Monaten und Jahren danach habe ich oft stundenlang geschrien und geweint: Warum bist Du gegangen? Warum hast Du mich allein gelassen? Wie soll ich denn jetzt ohne dich leben? Es gab Tage da habe ich ihn gehasst, so wütend war ich auf ihn. Dieses Gefühl hatte ich auch, als mein Freund Jose vor zwei Jahren gestorben ist. Ich war wütend, unfassbar wütend und sehr traurig.

Es gibt Menschen die sagen, dass man nicht wütend sein darf und dass das sehr egoistisch wäre. Doch diese Menschen haben nicht Recht und verurteilen einfach so unsere Gefühle. Es ist gut wütend zu sein. Wenn wir traurig sind, wenn wir weinen, wenn alles weh tut – die Augen, der Kopf, der Bauch, die Seele, dann passiert etwas mit uns. Es fühlt sich an, als ob ein böses wildes Tier uns von innen auffrisst. Wir können nicht mehr lachen und die Tage sind schrecklich. Das fühlt sich nicht gut an und wir bekommen Angst. Und wenn wir Angst haben, dann werden wir erst recht wütend und aggressiv, weil wir uns gegen dieses böse Tier wehren müssen. Wenn wir traurig sind, dann müssen wir einfach weinen und nach einer Zeit fühlen wir uns auch wieder besser. Und so ist es auch mit der Wut. Wenn wir die Wut nicht raus lassen, dann bleibt sie in unserem Bauch und fängt an, uns kaputt zu machen und wir werden krank. Wenn ihr wütend seit, wenn ich wütend bin, dann mache ich manchmal Dinge kaputt. Danach geht es mir besser. Wenn wir nicht wütend sein dürfen, wenn wir still sein sollen, dann wird die Wut etwas in uns kaputt machen. Deshalb darf man auch wütend sein – selbst auf den eigenen Papa. Vor ein paar Tagen hat mir eine Frau erzählt, dass sie so wütend auf ihren Papa war, dass sie schreiend durch den Wald rannte. Wir haben alle Wut.

Aber neben der schlimmen Traurigkeit und neben der Wut hatte ich, als mein Papa gestorben ist, noch ein ganz anderes schlimmes Gefühl. Ich hatte Angst um meinen Papa, weil ich nicht wusste, was jetzt mit ihm ist und wo er war. Ich dachte sehr oft, dass Papa jetzt gar nicht sehen wird, was ich mache oder wie es mir geht. Er wird meine Briefe nicht lesen und ich kann ihm nicht mehr erzählen, wenn ich ihn brauche oder dass ich ihn lieb habe.

Manche Leute sagen, dass wenn man Tod ist, kommt nichts mehr. Andere sagen, dass da eine ganz andere Welt und ein ganz neues Leben ist. Doch niemand weiß es, weil noch nie jemand zurückgekommen ist und davon erzählt hat, wie es ist. Menschen reden von einem Gott, der da auf uns wartet und den wir dann treffen werden. Doch diesen komischen Gott von dem alle reden, hat auch noch nie jemand gesehen. Keiner weiß wie er aussieht. Niemand weiß ob es ihn wirklich gibt. Alle reden von ihm, doch man hat ihn noch nie gesehen und noch nie angefasst und es ist noch nie jemand zurückgekommen und hat gesagt: Ich habe ihn gesehen.

Eines Tages wird jeder von uns spüren, dass es Zeit wird zu gehen. Wir wissen dass der Moment kommen wird und dass wir uns auf eine Reise machen werden. Wir wollen nicht aber wir müssen und vielen haben Angst davor. Manche haben keine Zeit darüber nachzudenken. So wie mein Papa, so wie Euer Papa. Es geht so schnell. Auch sie wussten nicht, was mit ihnen geschieht. Es ist ja noch nie jemand zurückgekommen und hat erzählt, wohin die Reise geht und wie es sein wird. Gibt es ein Leben nach dem Tod? Wohin ist denn mein Papa gegangen? Dazu möchte ich Euch beiden eine kleine Geschichte erzählen. Eine Geschichte von Zwillingen. Wie ihr beide, zwei Brüder, die noch ganz klein waren und im Bauch der Mutter lebten. Da hatten sie noch viel Platz. Und wie wir sprachen die Brüder miteinander und sagten: Ist das toll hier. Und je mehr sie spürten, was alles um sie herum passiert und was sie alles machen können, umso größer wurde ihr Bewusstsein und damit auch ihr Freude. Und beide sagten, dass es so so großartig ist, hier im Bauch zu sein. „Ist es nicht total toll, dass wir leben“? Fragte der eine und der andere sagte: „Ja, echt super und jeder Tag ist so schön“.

Als die Zwillinge ein bisschen größer waren, besser denken konnten, begannen sie im Bauch der Mutter rum zu schwimmen und ihre Welt zu entdecken. Sie fassten alles an, klopften an jede Wand und traten mit den Beinen auch mal ganz fest zu. Und eines Tages stellten sie fest, dass eine großer Schlauch von ihrem Bauch zur Mutter ging und sie durch diesen Schlauch Essen bekommen. Da weinten sie vor Freude und hatten die Mutter ganz doll lieb. „Schau mal was die Mutter mit uns macht. Die teilt ihr Essen und ihr Leben mit uns. Mit dem Schlauch hier. Ich habe Mama richtig lieb“, sagten sie.

Mit den Wochen und Monaten wurden die Brüder immer größer und die Welt im Bauch veränderte sich. Plötzlich hatten sie gar keinen Platz mehr und irgendwie wurde alles eng und eigentlich war es gar nicht mehr so schön. Es fing an zu zwicken, der Eine schubste den Anderen, ständig tat was weh und immer hatte man die Hand des anderen im Gesicht.

Und irgendwie wussten plötzlich beide, dass es wohl nicht mehr lange dauern wird und sie gehen mussten. „Aber wohin gehen wir?“ fragten sie sich. „Da ist doch nichts.“ Sagten sie. „Woher bekommen wir Essen, wenn der Schlauch nicht mehr da ist?

Die Angst und die Sorgen der beiden wurden immer größer. „Ich will nicht gehen“, sagte der Eine. „Ich will für immer hier bleiben“. „Das geht aber nicht“, sagte sein Bruder. „Aber vielleicht gibt es ja ein Leben nach der Geburt.“

Sein Bruder zweifelte: Wie soll das sein? Vor uns waren schon andere hier im Bauch und keiner ist zurückgekommen. Wir werden unseren Schlauch mit Essen verlieren. Nein, das ist das Ende da ist nichts mehr“, war er sich ganz sicher.

Sein Bruder protestierte. „Aber da muss was sein. Wie sollten wir denn sonst hier in den Bauch zur Mutter hinein gekommen sein? Wie könnten wir hier sonst am Leben sein? Schwimmen, Treten uns anfassen“ Da schaute ihn sein Bruder sehr ernst an und sagte: „Hast Du jemals unsere Mutter gesehen? Hast Du jemals mit ihr gesprochen? Vielleicht hat man sich die Mutter nur ausgedacht und es ist eine wilde Geschichte, damit wir das Leben besser verstehen und nicht verrückt werden. Ich weiß nicht ob es Mutter wirklich gibt, ich glaube nicht.“ Und die beiden Brüder wurden still und die folgenden Tage waren ganz schwierig, weil sie traurig waren und nicht wussten was passieren wird. Noch nie hat jemand die Mutter gesehen, noch nie ist jemand zurückgekommen. Noch nie konnte jemand ohne Schlauch am Bauch und ohne Essen überleben.

Und schließlich kam der Moment der Geburt und als die Brüder ihre Welt verlassen haben und der Schlauch zur Mutter abgeschnitten wurde, öffneten Sie ihre Augen und sie sahen plötzlich die Mutter. Sie fassten sich an uns stellten fest, dass sie noch da waren, dass sie leben und alles um sie rum war noch viel toller und schöner und wirklich alles übertraf die größten und buntesten Träume, die sie jemals hatten. Weg waren alle Sorgen und die ganze Angst.

Dieser Baum hier, der Ginko ist für Euren Papa. Und ich habe am Anfang gesagt, dass das ein ganz besonderer Baum ist. Wenn Ihr Euch die Blätter anseht, dann seht ihr, dass sie aus zwei Teilen bestehen. Der eine Teil steht für die Liebe und der zweite Teil steht für die Freundschaft. Deshalb ist dieser Baum nicht nur für Euren Papa, sondern auch für Euch und die Mama. Weil die Liebe und die Freundschaft zu Eurem Papa wird immer bleiben, ganz gleich wo und wie er jetzt ist.

Und wisst ihr was? Ich fühle, dass unsere Väter nicht fort sind, weil Beim Aufgang der Sonne und bei ihrem Untergang

erinnern wir uns an sie;

Beim Wehen des Windes und in der Kälte des Winters

erinnern wir uns an sie;

Beim Öffnen der Knospen und in der Wärme des Sommers

erinnern wir uns an sie;

Beim Rauschen der Blätter und in der Schönheit des Herbstes

erinnern wir uns an sie;

Zu Beginn des Jahres und wenn es zu Ende geht

erinnern wir uns an sie;

Wenn wir müde sind und Kraft brauchen

erinnern wir uns an sie;

Wenn wir verloren sind und krank in unserem Herzen

erinnern wir uns an sie;

Wenn wir Freude erleben, die wir so gern teilen würden

erinnern wir uns an sie;

So lange wir leben, werden sie auch leben,

denn sie sind nun ein Teil von uns,

wenn wir uns an sie erinnern.

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