Rubrik: Hilfe nach Suizid - Der Umgang mit Schuldgefühlen nach einem Verlust.
- Mario Dieringer
- 20. Feb.
- 3 Min. Lesezeit

Die Schuld, die bleibt
Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte es sehen müssen. Ich hätte etwas tun müssen.
Diese Sätze brennen sich ein. Sie graben sich tief in die Haut, als wären sie tätowiert mit einem Messer, nicht mit Tinte. Sie werden zum Echo im Kopf, das niemals verstummt. Es spielt keine Rolle, wie oft mir jemand sagt, dass ich keine Schuld trage. Dass ich nichts hätte tun können. Dass es nicht meine Verantwortung war. Die Schuld ist ein hartnäckiger Schweinehund – sie bleibt, selbst wenn der Verstand begreift, dass sie keinen verdammten Grund hat zu existieren.
Ich erinnere mich noch an den Moment, als ich realisierte, dass er wirklich gegangen war. Nicht nur für eine Nacht. Nicht nur für ein paar Stunden, um den Kopf freizubekommen. Sondern für immer. Ich erinnere mich an die Kälte dieses Moments. Sie setzte sich fest, tief in mir drin. Ich glaube, sie ist nie wirklich verschwunden und dieser Ort der unbeschreiblichen Kälte und Finsternis wird für immer ein Teil von mir sein.
Nach einem Suizid beginnt das große Rätselraten. Man durchforstet Nachrichten, spielt Gespräche im Kopf ab, seziert jede Erinnerung, als könnte man irgendwo den Moment finden, an dem man hätte eingreifen müssen. Ein Wort anders wählen. Einen Anruf tätigen. Ein Treffen nicht absagen. Vielleicht hätte eine Berührung gereicht, eine Umarmung, ein „Bleib“. Aber wir haben keine Zeitmaschinen. Und trotzdem geht man die Tage und Wochen und Jahre immer wieder durch – als könnte man die Vergangenheit mit genug Gedanken neu schreiben.
Aber das kann man nicht.
Es hat lange gedauert, bis ich begriff, dass Schuld ein trügerischer Begleiter ist. Sie gibt dir das Gefühl von Kontrolle. Wenn es meine Schuld war, dann hätte ich es verhindern können. Dann hätte es einen anderen Ausgang geben können. Und wenn ich es hätte verhindern können, dann heißt das, dass die Welt nicht so verdammt unberechenbar ist, dass Menschen, die man liebt, nicht einfach aus dem Leben gerissen werden. Schuld gibt dir das Gefühl, dass es einen Sinn gibt. Einen Zusammenhang.
Aber das ist eine Lüge.
Ich habe ihn nicht getötet. So wie du deinen geliebten Menschen nicht getötet hast. So wie niemand, der zurückbleibt, ein Mörder ist. Die Wahrheit ist, dass Suizid eine das letzte Symptom diverser psychischer Erkrankungen ist, das in einer Dunkelheit entsteht, die wir von außen nie ganz verstehen können. Wir sehen vielleicht die Schatten, aber nicht das, was darin verborgen liegt. Wir lieben Menschen, aber manchmal reicht Liebe nicht aus, um jemanden am Leben zu halten.
Und das ist eine verdammte, grausame und ziemlich beschissene Wahrheit.
Ich weiß nicht, wann ich aufgehört habe, mich für seinen Tod verantwortlich zu fühlen. Vielleicht ist es nie ganz verschwunden. Vielleicht ist es so wie mit Narben – sie verblassen, aber sie sind immer da. Ja, ich habe den letzten Tropen in sein Fass getan aber ich habe dieses Fass nicht gefüllt, denn er was seit seinem 16ten Lebensjahr suizidal. Ich weiß nur, dass ich eines Tages aufwachte und es mir ein wenig leichter fiel zu atmen. Ein wenig leichter, in den Spiegel zu sehen. Ein wenig leichter, mein Leben weiterzuführen, ohne mich bei jedem Lächeln zu fragen, ob ich es überhaupt verdient habe.
Falls du das hier liest und Schuld auf deinen Schultern trägst: Ich weiß, wie schwer sie wiegt. Ich weiß, wie sie dich in der Nacht wachhält, wie sie dich zerfrisst, wie sie dich zweifeln lässt, ob du ein guter Mensch bist. Aber ich will dir etwas sagen, und ich meine es verdammt ernst: Du trägst keine Schuld. Du bist kein schlechter Mensch. Und du hast das Recht, weiterzuleben.
Es gibt keine Gerechtigkeit im Tod. Kein „hätte, wäre, wenn“. Es gibt nur das Jetzt. Und die Entscheidung, weiterzugehen, trotz allem.
Vielleicht ist das unsere eigentliche Aufgabe: Nicht Schuld zu tragen, sondern weiterzumachen. Nicht zu vergessen, aber auch nicht unterzugehen. Denn das Leben ist immer noch da. Und es wartet auf uns.
Wenn dich dieser Beitrag berührt hat oder du jemanden kennst, der mit Schuldgefühlen nach einem Verlust kämpft, dann teile ihn, kommentiere deine Gedanken oder speichere ihn für später. Manchmal kann genau diese eine Nachricht den Unterschied machen – für dich oder für jemanden, der sie dringend braucht. Lass uns gemeinsam ein Zeichen setzen: Niemand muss diese Last allein tragen. 💙 #DuBistNichtAllein
Danke für diesen Text!