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AutorenbildMario Dieringer

Pillen gegen den Suizid?


Wenn ich mich in den einschlägigen Foren und Gruppen rumtreibe, stolpere ich immer wieder über die Frage, wie sinnvoll Psychopharmaka sind und welche Behandlung die Beste zu sein scheint. Leider wird diese Diskussion in vielen Fällen vollkommen unsachlich und vor allem erschreckend emotional geführt. Da werden dann Schlagworte ins Feld geführt, die besagen, dass man von Psychopharmaka Suizidgedanken bekommt oder 30 kg zunehmen kann. Ja, um es vorweg zu nehmen, das kann schon möglich sein, doch so einfach ist die ganze Sache nicht.

Leider erwarten Patienten tatsächlich, dass der Arzt eine Pille verschreibt, die nach zwei Wochen glücklich macht und spätestens nach sechs Monaten eine vollständige Heilung herbeiführt. Argumentativ braucht man sich an dieser Diskussion gar nicht beteiligen, wird man doch sofort niedergebrüllt. Dass es wie immer im Leben, viele verschiedenen Perspektiven gibt und mehrere Wege nach Rom führen, wollen die Diskussionsteilnehmer nicht wahrhaben und schlimmer noch, nicht gelten lassen. Da wird gewarnt, getobt und beeinflusst, was das Zeug hält und man glaubt fast auf einem medizinischen Treffen von Wikipedia-Lesern gelandet zu sein. Deshalb möchte ich jetzt einfach mal meine Sicht der Dinge darlegen und von meinen Erfahrungen berichten.

Es gibt ja leider Gottes nicht nur eine Form der Depression. Sondern gleich einen ganzen Haufen davon. Die bekanntesten sind:

  • Major Depression. ...

  • Psychotische Depression. ...

  • Pränatale und postnatale Depression. ...

  • Bipolare Störung. ...

  • Zyklothyme Störung. ...

  • Dysthymie. ...

  • Jahreszeitlich bedingte affektive Störung („Herbst-Winter-Depression“)

  • Die Altersdepression

und vielleicht gibt sogar noch einen ganzen Haufen mehr. Ich meine mal irgendwo gelesen zu haben, dass es rund 160 verschiedene Formen und Kombinationen von Depressionen gibt. Zudem gehen sie auch oftmals noch mit Ängsten und Panikattacken einher, die für sich genommen auch schon wieder eine extra Störung sind. Und die Stärke der einzelnen Depressionen und Ängste führt ja auch zu einer eigenen Klassifikation.

Der Arzt hat also die Aufgabe zunächst mal herauszufinden, um welche Form der Depression es sich handelt. Mit ein wenig Nachdenken kann man sich vorstellen, dass dies nicht von jetzt auf gleich möglich ist. Es Bedarf vieler Gespräche und einiger Analysen, bis die behandelnden Ärzte eine Vorstellung davon bekommen, was da Sache ist. Da kommt es auch auf die Zusammenarbeit mit dem Patienten an. Wenn dieser nicht in der Lage ist, sich ordentlich zu artikulieren und darzustellen, was gerade abläuft wird es schwierig. Als ich damals zusammengebrochen bin habe ich die ersten vier Wochen, Tag und Nacht nur geheult. Und die zweiten vier Wochen waren nur ein wenig besser. Ich konnte kaum reden und es war schwierig an mich heran zu kommen. Und, wie mir mal ein Arzt gesagt hat, besteht die Schwierigkeit auch darin, dass man sich auf das verlassen muss, was der Patient erzählt. Es gibt ja keine Proben, die man unter das Mikroskop legen kann und dann sofort sehe, um welchen Defekt es sich handelt. Es zählt das gesprochene Wort und die sichtbare Emotion. That´s it.

Was man anfangs vielleicht nicht weiß ist, dass im Patienten zwei Störungen vorhanden sind. Ängste und Depressionen. Es gilt also herauszufinden welche Kombination nun vorliegt. Bekannte Ängste sind:

  • Soziophobie (soziale Angststörung) ...

  • Spezifische Phobien. ...

  • Zwangsstörung. ...

  • Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ...

  • Panikstörung

  • Generalisierte Angststörung (GAD)

Lasst mich mal rechnen. Gehen wir mal davon aus, dass alles x-beliebig miteinander kombinierbar ist. Wir haben sechs grundlegende Arten von Angststörungen und acht Arten der Depressionen. Das ergibt also pro Depressionsart sechs Kombinationsmöglichkeiten. Macht also 48. Also egal ob nun nur Depression, nur Angststörung oder beides zusammen. Die Diagnose geht nicht so schnell, selbst wenn diese Rechnung nicht stimmt.

Wer sich mit Depressionen auskennt weiß, dass Depressionen die Hirnchemie verändern. Das bedeutet ganz einfach ausgedrückt, dass die Suppe in der dieses weitestgehend unbekannte Organ schwimmt, nicht mehr dem Urzustand entspricht. Es fehlen Botenstoffe oder es gibt zu viel von diesem oder jenem. Das hat Auswirkungen auf unser Denken, auf unsere Emotionen und auch auf unsere Handlungen. Das ist mit ein Grund, weshalb es zum Suizid kommt. Jetzt ist es ja auch nicht einfach so, dass wir mal ein Loch in den Kopf bohren und ein Analysegerät ins Hirn schieben können, das uns anzeigt, ob von allem genug vorhanden ist.

Nein, der Arzt kann sich nur auf Erfahrungswerte berufen und auf die Symptome, die geschildert werden. Danach muss es einfach ausprobiert werden und das ist leider auch ein wenig try and error. Auch wenn man gerne hätte, dass Mediziner die allwissenden Götter in Weiß sind, so sind es doch nur Menschen. Dieser Mensch gibt uns also eine Pille von der er annimmt, dass sie vielleicht helfen könnte, das biochemische Gleichgewicht im Hirn wieder herzustellen. Und weil dabei wirklich Vorsicht geboten ist, beginnt er mit der Zugabe der niedrigsten Dosierung. Und da wir keine Maschinen sind sondern ein lebender Organismus, dauert es unter Umständen Wochen, bis unser Körper reagiert. Passiert nach zwei Wochen noch nichts, erhöht man die Dosis und so weiter. Bei mir hat es 6 Wochen gedauert, bis ich spürte, dass jetzt irgendwas anders ist, ohne sagen zu können was genau. Von „gut“ war ich da noch weit entfernt. Ich hatte auch Glück, weil mein Körper hat die Substanz gut vertragen. Andere Mitpatienten sind innerhalb von Stunden durchgedreht oder haben Zitteranfälle bekommen. Das ist dann quasi wie eine allergische Reaktion und in der Klinik konnte man sofort was dagegen tun. Das ist auch der Grund, weshalb ich dringend empfehle in eine stationäre Therapie zu gehen, weil man dann auf jede Form der Veränderung sofort reagieren kann. Dort sind Spezialisten. Lasse ich mir vom Hausarzt etwas verschreiben, der nur keine bis wenig Ahnung von psychischen Krankheiten hat, sagt der: Kommen Sie mal in vier Wochen wieder. Geht es Dir aber nicht gut und rufst du da an, heißt es: Ja, Du kannst in einer Woche kommen, da haben wir den nächsten freien Termin. … Kein Wunder also, dass die Erstmedikamentation zu Hause, durchaus Gefahren mit sich bringen kann. Ich halte davon deshalb nichts.

Glückt also der erste Versuch nicht, muss man rausfinden, welches Mittel nun wirklich helfen kann. Man geht also in die nächste Runde. Kann leider auch wieder ein paar Wochen dauern. Haben die Ärzte dann endlich das Richtige gefunden, muss die Dosis bestimmt werden. Hat bei mir rund 12 Wochen gedauert. Am Ende war ich bei der Höchstdosis von 40 mg beim Medikament für die Nacht und bei 30 mg bei der Pille am Tag. Und siehe da, vom heulenden Haufen Elend wurde ich in winzigen Schritten wieder zu einem Menschen, der denken, reden und arbeiten konnte.

5 Jahre lang habe ich diese Pillenkombination genommen und 2017 habe ich damit begonnen, die Medikamente ausschleichen zu lassen. Das bedeutet, dass man über Wochen hinweg immer weniger davon nimmt, bis man nach etlichen Monaten bei Null angekommen ist. Das hat bei mir nicht geklappt. Mein Medikament für die Nacht kann ich bis zum heutigen Tage nicht absetzen. Aber ich viertel mittlerweile die Pillen, weil es keine niedrigere Dosis mehr gibt und nehme nur noch 3,5 von ehemals 40 mg pro Tag zu mir. Das andere Medikament kann ich ganz weglassen. Und mir geht es blendend.

Aber es geht mir nur deshalb blendend, weil ich auch jahrelang in psychotherapeutischer Behandlung war und mich selbst kennengelernt habe. Auch hier verweise ich gerne auf die stationäre Behandlung. Dort habe ich innerhalb von 4 Monaten meine wichtigsten psychischen Säulen kennengelernt und wusste plötzlich, warum ich wie reagiere. Hätte ich nach meinem Zusammenbruch 6 Monate auf einen freien Platz warten müssen und dann nur einmal pro Woche eine Sitzung gehabt, wäre ich heute noch nicht fertig mit allem. Während der stationären Behandlung hat man manchmal drei bis fünf Sitzungen am Tag, unterschiedlichster Art, mit verschiedenen Therapeuten, die sich im Team zur Diagnostik und weiteren Behandlung austauschen. Das kann Dir Dr. Lieschen Müller, Hausärztin aus Hintertupfingen nicht bieten. Wie auch?

Und der letzte wichtigste Faktor, der für mich mindestens 50% ausmacht, ist die radikale Veränderung des Lebens. Dazu gehörten auch reichlich unpopuläre Schritte, wie zum Beispiel Trennung vom Partner, Aufgabe des Jobs und vielem mehr. Weg von dem was mich belastet, hin zu dem was ich liebe, was mich glücklich macht. Und da stehe ich nun und bin nach 5 Jahren wieder mitten im Leben angekommen und wieder glücklich und erfüllt.

Aber mir ist auch klar, dass die Depressionen und alles was dazu gehört, jederzeit wieder ausbrechen können, wenn Dinge im Leben passieren, die nicht schön sind. Dann können sie plötzlich wieder zuschlagen. Daher ist es wichtig, voller Achtsamkeit mich selbst immer im Blick zu haben. Dabei hilft mir Mediation, die ich jeden Tag mache. Manchmal sogar eine Stunde lang, meist 20 bis 30 Minuten am Morgen oder an stressigen Tagen noch eine zweite Meditationssitzung am Abend.

Vor einigen Tagen verfolge ich auch eine Diskussion darüber, ob man an einer Studie teilnehmen sollte. „Bist Du verrückt? Du bist ein Versuchskaninchen, Du wirst sterben“, war der Tenor. Ganz ehrlich: Wenn man nach Jahren immer noch nicht das Richtige Medikament gefunden hat, sehe ich nicht, warum man nicht an einer Studie im stationären Rahmen teilnehmen sollte. Entweder es ist ein Placebo oder es hilft. Aber klar, es besteht auch die Gefahr, dass sich dadurch was Komisches entwickeln kann. Risikolos ist es nicht. Dessen muss man sich bewusst sein.

Mein Weg hat mir das Leben gerettet: 1. Ich bin zusammengebrochen und habe mich direkt in die Klinik einweisen lassen. Klar, das war nicht schön aber nur dadurch bin ich sofort diagnostiziert worden. Das hat sieben Wochen gedauert.

2. Dann war ich vier Monate in stationärer Therapie.

3. Danach wöchentliche Sitzung

4. und in der ganzen Zeit Pillen, die mir geholfen haben. Ich habe auch keine dramatischen Nebenwirkungen gehabt. Laut Beipackzettel könnte ich echt fett werden und Fressattacken bekommen. Habe ich Gott sei Dank nicht.

5. Änderung des Lebens

Deshalb rate ich jedem dazu in kontrollierter Umgebung die richtigen Medikamente zu finden und zu nehmen. In Kombination mit allem anderen wird das helfen. Aber wer nicht bereit ist sein Leben zu ändern und wer hofft, dass ein Pille die sofortige Heilung bringt, verabreicht durch einen allwissenden Gott, wird nicht gesunden. Und klar, manchmal tut es natürlich auch, wenn ich nur das Leben verändere oder nur die Medikamente nehme oder nur eine Therapie mache. Oder manchen helfen CBD-Öle oder andere Dinge. Auch das muss ausprobiert werden und es gibt sicher keine absolute Wahrheit. Aber Dass Deine Wahrheit die einzig Richtige sein soll, ist einfach nur Schwachsinn, so wie meine Wahrheit eben auch nur eine von vielen Wahrheiten und Perspektiven ist, die helfen kann aber nicht zwingend muss.

Und wer jetzt denkt: „Naja, bei dem läuft ja alles supi und ist ohnehin nur so ein Heidschibumbeidschi-Kranker, der täuscht sich. 2012, bin ich zusammengebrochen und diagnostiziert worden. 2014 hatte ich einen Suizidversuch, den ich nur überlebt habe, weil man mich zurückgeholt hat. 2016 hat sich mein Freund das Leben genommen.

Es war alles, nur nicht einfach und vom Schicksal gepämpert. Aber es gilt was immer gilt: von nichts kommt nichts und es gibt immer mehrere Wahrheiten und ein wenig Realismus in der Sache an für sich, schadet auch nicht. Deshalb würde ich mich freuen, wenn sich die Wikipedialaien zurückhalten würden und auch ihre eigenen Erfahrungen auf den Prüfstand stellen und sich fragen, welche Erwartungen eigentlich dahinter stecken, bevor sie leidende Menschen so sehr verunsichern, dass diese lieber gar nichts mehr machen und am Ende tot sind.


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