Wer eine Partnerin, einen Partner, ein Kind, ein Geschwister oder ein Elternteil plötzlich und ohne Vorwarnung verliert, erlebt oft, von einer Sekunde auf die andere, wie sich das Leben dramatisch verändert. Nichts ist mehr so, wie es einmal war und im Fall von einem Suizid spüren die Angehörigen, dass die Welt nie wieder dieselbe sein wird.
Nach dem Suizid von meinem Partner habe ich das auch erlebt. Ich hatte das Gefühl, dass alles um mich herum und in mir explodiert. Ich wusste sofort, dass dies die gewaltigste Zäsur aller Zeiten ist.
Geplagt von erneut einsetzender Suizidalität, aufgrund meiner Selbstvorwürfe, extremen Panikattacken und Depressionen, die an Schwärze und Mächtigkeit kaum zu überbieten waren, konnte ich für fast sechs Monate die Wohnung kaum verlassen. Es war so schlimm, das Freunde für mich einkaufen gegangen sind.
Ich habe mehr oder weniger sechs Monate lang Tag und Nacht geheult. Der Schmerz und die Trauer war immens. Aber das Schrecklichste aller Gefühle war, dass ich keinen Sinn mehr fühlte, um weiter zu machen. Es gab nichts mehr wofür es sich lohnte, leben zu wollen. Die Freunde, mein Job, meine Familie, nichts spielte mehr eine Rolle. Selbst meine kleine Obdachlosenorganisation die Winter-Stricker verloren sich im Nichts der Bedeutungslosigkeit.
Es war jetzt nicht so, dass ich ein Leben geführt habe, das mit großem Sinn angereichert war. Ich bin den Dingen nachgegangen die ich liebte, die jeder machte. Ein wenig schreiben, lesen, reisen, Freunde, Arbeit, Party, keine Kinder, keine Familie, für die ich sorgen muss, keine Familie, die sich kümmert …. That´s it. Bedeutungslos und nichts aufregendes ….. das war plötzlich alles weg.
Das Leben hat in der Sekunde, in der ich die Todesnachricht erhalten habe, jeden Sinn verloren. Ein Blick in die Zukunft offenbarte nichts weiter als unendliche Schwärze. Irgendwann einfach wieder weiter zu machen, wie bisher, war und ist bis zum heutigen Tag undenkbar.
Dann kam der Tag, als früh morgens unter der Dusche, Trees of Memory als Full Package geliefert wurde, wie ich es nenne. Plötzlich war diese komische Idee in meinem Kopf. Zunächst dachte ich, dass ich nicht alle Latten am Zaun habe und das glauben vermutlich auch heute noch etliche Menschen. Doch Stunden später war mir klar: Mario, entweder Du machst das oder du bist in spätestens vier Wochen tot. Ich hatte keine Alternative und das empfinde ich auch heute noch so.
Zwei Monate später, als ich mit Trees of Memory an die Öffentlichkeit ging und genauso viele Menschen fasziniert, wie entsetzt waren, durfte ich das Projekt bei der jährlichen Sitzung des Frankfurter Netzwerkes für Suizidprävention präsentieren, wo ich den Schirmherr Walter Kohl kennen lernte. Niemand lachte mich aus, im Gegenteil. Ich erfuhr sofort Unterstützung. Bei einem späteren gemeinsamen Abendessen, sagte Walter beiläufig: „Du kennst doch bestimmt das Buch von Viktor Frankl „Trotzdem ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“.
Ähm ... Kannte ich nicht. Viktor Emil Frankl war ein österreichischer Neurologe und Psychiater. Er begründete die Logotherapie und Existenzanalyse, die vielfach auch als die „Dritte Wiener Schule der Psychotherapie“ bezeichnet wird. Er überlebte als Jude den Holocaust in den Konzentrationslagern Dachau und Ausschwitz. In diesem Buch beschreibt er, wie sich die menschliche Seele und Psyche wandelt, wenn man unter solchen Bedingungen Jahre verbringt. Das Einzige, was diese Menschen davon abgehalten hat sich umzubringen oder den umgehenden Mord an sich selbst zu provozieren, war nichts weiter als die Hoffnung. Die Hoffnung darauf, das alles zu überstehen, befreit zu werden, die Familie wieder zu haben, wieder zurück ins Leben zu können.
Dann wurden sie befreit. Und sie stellten fest, dass alle Familienmitglieder ermordet wurden, sie kamen in die Städte, die dem Erdboden gleichgemacht waren und hatten keinerlei Wohnung oder Besitz mehr. Sie waren umgeben von Menschen, die sie lieber tot als lebendig sahen, von Nazis und Verrätern und kein Land der Welt wollte sie, trotz all dem Leid aufnehmen. Es war weg, was sie am Leben erhalten hatte. Die Hoffnung.
Viele dieser Menschen haben die Jahre danach nicht überlebt. Doch anderen gelang, was man sich fast nicht vorstellen konnte. Sie konnten leben, sie konnten Familien gründen, sie konnten wieder lachen und sind alt geworden. Trotz allem konnten sie dem Leben einen neuen Sinn geben.
Sinnzentrierung nennt es Viktor Frankl.
Ohne dieses Buch zu kennen, habe ich mir oder hat sich meine Seele, wer weiß das schon, genau das gemacht. Meinem Leben wurde ein neuer Sinn gegeben. Ein Sinn der weit über das hinaus geht, was ich früher hatte.
Ich habe keine Sekunde daran gezweifelt, dass es richtig sein wird, wenn ich Trees of Memory umsetze. Mein Herz, meine Gefühle – alles in mir sagte mit überraschender Leichtigkeit: Mach es.
Lediglich mein Verstand sprang im Viereck und schrie den ganzen Tag, dass ich vollkommen verrückt geworden sei. Ich habe immer wieder Panikattacken bekommen und dann schaltete sich irgendwas in mir ein und sagte: Vertrau darauf. Folge Deinem Herzen. Mach es einfach und Du wirst schon sehen. Das habe ich dann gemacht und plötzlich änderte sich alles in meinem Leben. Es ist sogar so weit gegangen, dass ich die Medikamente zur Depressionsbehandlung, die ich vier Jahre lang genommen habe, ausschleichen lassen konnte. Und wie ihr wisst, laufe ich seit März 2018 tatsächlich durch Deutschland, als erste Etappe auf meinem Weg um die Welt und habe zahlreiche Bäume der Erinnerung gepflanzt.
Es gab Menschen, die so fasziniert waren, dass sie einen Verein gegründet haben, der nach nur einem Jahr seine Mitgliederzahl verdoppelt hat und zwischenzeitlich aktive Unterstützung für Hinterbliebene anbietet. Ich laufe Tag für Tag durch die Welt und ich habe so oft Tränen in den Augen, weil ich einfach nur dankbar bin, dass ich das machen darf und all diese Menschen treffen darf und, dass ich noch lebe, bzw. wieder lebe.
Ich habe dafür alles aufgegeben. Ich habe alle verschenkt oder verkauft, was ich hatte und meine Mietwohnung aufgelöst. Mein gesamter Besitz passt in 5 Umzugskartons. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass ich mit dem Loslassen von allem, mit einer Art Zahlung in Vorleistung gehe und dafür werde ich was ganz Tolles bekommen. Das Gefühl habe ich sogar immer noch. Und ich habe was ganz Besonderes bekommen, wenn ich mir das letzte Jahr ansehe.
Dem Leben einen neuen Sinn zu geben, hat mir das Leben gerettet. Das war schwierig, das war nicht leicht und in meinem Fall war das so radikal und endgültig, wie der Suizid meines Partners. Aber das was ich jetzt mache erfüllt mich mehr, als jedes Gehalt der Welt. Und es passt zu mir, auch in seiner extremen Ausrichtung.
Man muss nicht alles aufgeben, aber man kann. Man muss nicht die Welt retten wollen, vielleicht reicht auch die Hundezucht von der man seit Jahren träumt. Stricken für Obdachlose ist genauso hilfreich wie Müll sammeln am Strand. Vielleicht gibt einem auch die Gründung einer eigenen Familie, eines Vereins oder einer Stiftung einen Sinn. Auch die Mitarbeit in einem Verein kann sinnstiftend sein (wir suchen übrigens Menschen, die als Ansprechpartner für unsere Ersten Anlaufstellen ehrenamtlich tätig sein wollen). Alles ist möglich. Es gilt den Sinn zu finden, der einen alles vergessen lässt, der einen mit Leichtigkeit erfüllt und der den Sinn im eigenen Leben neu ausrichtet und zentriert. Du musst ihn einfach nur fühlen und das mit einer Mächtigkeit, die keine Zweifel aufkommen lässt. Eine Macht, die Dir die Kraft gibt all das zu tun, was notwendig ist, um Deine neue Aufgabe mit Haut und Haar leben zu können. Ganz gleich, ob das was Großes oder was Kleines, was Extremes oder was ganz Normales ist.
Ich habe dadurch auch gelernt, dass es lediglich darauf ankommt, welche Antwort man auf die finsteren Aufgaben findet, die einem das Leben so erbarmungslos präsentiert. Das hat mir das Leben gerettet und lässt mich heute wieder lachen und leben.
Ich glaube, dass es gar nicht so schwer ist einen Sinn zu finden, wenn man sich fragt, wofür das eigene Herz brennt und wie man das mit anderen Dingen kombinieren kann. Ich glaube nicht, dass man am Schreibtisch sitzen kann und einen Sinn erfindet, wie man das mit einer Marketingstrategie machen würde. Ich glaube, dass man sein Herz öffnen muss und irgendwie hineinfühlen sollte. Kontakt aufnehmen mit dem Selbst, der Seele oder wie man das auch immer nennen mag. Das klingt jetzt furchtbar abstrakt oder abgehoben. Aber das ist es gar nicht. Man braucht nur ein wenig Mut, das zuzulassen. Wenn Dir das gelingt, dann wirst Du auch feststellen, dass es Dir nicht mehr wichtig ist, wie hoch Dein Gehalt ist oder ob die Wohnung klein oder groß ist, weil sich alles nur noch darum dreht, das tun zu können, was Du fühlst und was Dich erfüllt.
Einfach ja sagen zum Leben, indem man ihm einen neuen Sinn gibt und mitunter hilft Dir dabei sogar Dein Verlust und Dein Schmerz. Es ermöglicht, diese Gefühle zu verwandeln und plötzlich lähmen sie dich nicht mehr, sondern sie geben Dir die Energie, die es braucht, wieder aufzustehen und weiter zu machen. … und mache dir keine Sorgen darüber was andere denken. Ich nerve auch viele, doch keiner von ihnen ist jemals in meinen Schuhen gelaufen. Kümmere Dich nicht um die anderen. Es geht um Dich ganz allein, denn Du liegst abends in Deinem Bett und wirst fühlen, wie es Dir geht und du wirst sehen, wie viel positives Feedback Du von anderen bekommen wirst. Die Genervten, leben ihr sorgloses Leben, das ihnen gegönnt ist. Es ist nicht Dein Leben. Loslassen bedeutet auch, sich von Menschen zu trennen, die Dein Leben bestimmen oder verändern wollen oder aus egoistischen Gründen genervt sind. Menschen, die mit ihrer egozentrischen Negativität Dein Leben nicht bereichern, nicht unterstützen, sondern schaden. Niemand von uns muss sich das zum Problem machen lassen. Es geht um Dich, Dein Leben, Deine Gesundheit, Deine Zukunft und Dein Glück. Die Hoffnung und der Schlüssel zum Glück liegt ausschließlich in Dir selbst begraben und es gilt ihn zu finden. Deinem Leben einen neuen Sinn zu geben, wird Dir dabei helfen.
Das Leben wird nie wieder so sein, wie es einmal war, Es wird ganz anders aber es wird auch wieder gut. Schmerzliche Erinnerungen dürfen ein Teil davon sein werden.
Sag ja zum Leben.
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